Virologie - Wissenschaft und Lehre von den Viren

#1 von Troubleshooter , 26.12.2020 00:19

Sektrum.de - "Phagen: Viren können nicht nur schaden, sondern auch helfen"

"[...]

Es wird immer klarer, dass viele Viren still im menschlichen Körper lauern, versteckt in Zellen in der Lunge, im Blut und in den Nerven, bevor sie irgendwann aktiv werden.

Biologen schätzen, dass derzeit 380 Billionen Viren auf und im menschlichen Körper leben – zehnmal mehr als Bakterien. Einige können Krankheiten verursachen, aber viele koexistieren einfach mit uns. Ende 2019 zum Beispiel entdeckten Forscher an der University of Pennsylvania 19 verschiedene Stämme des Redondovirus in den Atemwegen; einige davon stehen mit Parodontal- oder Lungenerkrankungen in Verbindung, andere hingegen könnten möglicherweise Atemwegserkrankungen verhindern. Die aktuelle Forschung zeigt zunehmend, dass Menschen nicht in erster Linie aus »menschlichen« Zellen bestehen, in die gelegentlich Mikroben eindringen. Der Körper ist in Wirklichkeit ein Superorganismus aus Zellen, Bakterien, Pilzen und vor allem Viren. Studien zufolge ist möglicherweise die Hälfte aller biologischen Materie in unserem Körper nicht menschlich.

Noch vor zehn Jahren war den Forschern kaum bewusst, dass das menschliche Virom überhaupt existiert. Heute sehen wir es als integralen Bestandteil des größeren menschlichen Mikrobioms: passive und aktive mikroskopische Organismen, die fast jeden Winkel von uns besetzen. Wir kartografieren das Virom seit zehn Jahren, und je genauer wir es untersuchen, desto mehr stellt sich heraus, dass wir mit ihm eine Partnerschaft eingegangen sind, die unser tägliches Leben sowohl positiv als auch negativ beeinflussen kann.

Neuere Forschungen zeigen, dass wir das Virom sogar zur Förderung unserer eigenen Gesundheit nutzen könnten. Forscher der Rockefeller University haben zum Beispiel ein Enzym eines Virus genutzt, um Bakterien abzutöten, die bei Patienten gefunden wurden, die gegen eine methicillinresistente Staphylokokkeninfektion kämpfen. Die Ergebnisse sind so ermutigend, dass die US Food and Drug Administration das Enzym als »bahnbrechende Therapie« bezeichnet hat. Es befindet sich jetzt in der Phase III klinischer Studien.

Heute spricht so mancher routinemäßig über »gute« und »schlechte« Bakterien. Viren fallen in die gleichen Kategorien. Die Herausforderung besteht nun darin, herauszufinden, wie sich die schlechten Bakterien sowie Viren stoppen und die guten fördern lassen.

Bei der Geburt infiziert

Der menschliche Körper ist eine reichhaltige Umgebung für Mikroben, die reich an Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten ist. Viele Viren gedeihen in uns friedlich, ohne uns krank zu machen. [...]

Zusammen mit Kollegen habe ich im September 2019 Viren im Liquor von Erwachsenen entdeckt, die auf verschiedene Erkrankungen getestet wurden. Die Viren gehörten zu mehreren verschiedenen Familien und wurden mit keiner bekannten Krankheit in Verbindung gebracht. Wir fanden die gleichen Viren auch in Blutplasma, Gelenkflüssigkeit und Muttermilch. Wir wussten, dass sich einige wenige seltene infektiöse Viren, insbesondere Herpes, in den Liquor einschleichen können, aber es war eine Überraschung, diese passiven Viren zu entdecken.

https://www.spektrum.de/fm/912/thumbnail...jpg.6372755.jpg (Grafik: Was sind Viren?)

Es scheint, dass sich unsere Viren bei der Geburt anfangen zu sammeln. Studien zeigen eine hohe Diversität von Viren im Säuglingsdarm kurz nach der Geburt. Demnach stammen sie wahrscheinlich von den Müttern der Säuglinge und wurden zum Teil über die Muttermilch aufgenommen. Die Menge einiger dieser Viren nimmt ab, wenn die Kinder älter werden. Andere gelangen über die Luft, das Wasser, die Nahrung und andere Menschen in unseren Körper. Diese Viren nehmen an Zahl und Vielfalt zu und infizieren Zellen, wo sie jahrelang überleben. Säuglingsviren sind instabil, während adulte Virome relativ stabil sind. Anelloviren, eine Familie von 200 verschiedenen Arten, kommen mit zunehmendem Alter in fast allen Menschen vor. Ähnliches beobachten wir bei Bakterien.

Menschen als Jagdrevier für Viren

Viele der im menschlichen Körper lebenden Viren greifen Zellen nicht an. Stattdessen suchen sie nach den Bakterien im Mikrobiom. Diese Viren, die als Bakteriophagen oder Phagen bekannt sind, schleichen sich in Bakterienzellen ein, nutzen die dortige Maschinerie, um Kopien von sich selbst herzustellen, und infizieren dann weitere Bakterien, wobei sie ihre Wirtszellen töten.

[...]

Im Jahr 2017 zeigten Sophie Nguyen und Jeremy Barr, damals an der San Diego State University, dass viele Phagen durch Schleimhautmembranen an ihren endgültigen Aufenthaltsort im Körper gelangen. [...]

Unser persönliches Viren-Profil

Das Virom kann von einem Körperteil zum anderen sehr unterschiedlich sein. [...] Trotz dieses Aufwands gibt es nun genügend Daten, so dass Forscher allein anhand der vorliegenden Viren sagen können, welchen Teil des Körpers sie untersuchen.
Meine Kollegin Melissa Ly von der University of California, San Diego, und ich haben auch gezeigt, dass wir durch den Vergleich der Virome nicht verwandter Menschen feststellen können, welche von ihnen zusammenleben. Obwohl verschiedene Menschen deutlich unterschiedliche Virome haben können, scheinen Menschen, die zusammenleben, etwa 25 Prozent der Viren in ihrem Virom zu teilen. [...] Intimkontakt scheint dabei kaum einen Unterschied zu machen; es reicht aus, nur im selben Haushalt zu wohnen.
[...]

Mechanismus kann schwere Verläufe bei Covid-19 erklären

Viele Viren in unserem Virom infizieren Bakterien, doch ein kleinerer Anteil infiziert Zellen in unserem Gewebe direkt. Diese Viren sind eventuell in der Minderheit, weil unser Immunsystem sie unterdrückt. Iwijn De Vlaminck, damals an der Stanford University, zeigte, dass die Präsenz bestimmter Viren dramatisch zunimmt, wenn das Immunsystem einer Person stark angegriffen ist – zum Beispiel, wenn jemand eine Organtransplantation erhalten hat und immunsuppressive Medikamente einnehmen muss, um eine Abstoßung des Organs zu vermeiden. In diesen Fällen sehen wir einen Anstieg sowohl von Viren, die bekanntermaßen Krankheiten verursachen, als auch von solchen, die dies nicht tun. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass unser Immunsystem unter normalen Umständen das Virom in Schach hält. Wenn die Immunität beeinträchtigt ist, können sich die Viren allerdings leicht vermehren.

Dieser Mechanismus könnte auch hinter den verschiedenen Verläufen von Covid-19 stecken. Schwer Erkrankte können Koinfektionen entwickeln. Am häufigsten ist eine sekundäre bakterielle Lungenentzündung oder Bakteriämie (ein Anstieg von Bakterien in der Blutbahn), an der Organismen wie Staphylococcus aureus und Streptococcus pneumoniae beteiligt sind. [...]

Phagen haben eine schlaue Strategie

Obwohl sie Jäger sind, leben viele Phagen lange Zeit in Harmonie mit ihrer Beute, manche führen nie zu einer Krankheit. Ein Virus ist nur ein Proteinknäuel, das ein Molekül mit genetischen Instruktionen umhüllt – den genetischen Code des Virus. Wenn einige Phagen ein Bakterium infizieren, integrieren sie ihr Genom in seines. Obwohl sich bestimmte Viren sofort vermehren und ihre Wirtsbakterien töten, bleiben andere Phagen einfach in ihrem Wirt wie in einem stillen Winterschlaf.

Dies ist wahrscheinlich eine Überlebensstrategie: Wenn sich das Wirtsbakterium teilt und eine Kopie seines Genoms erstellt, kopiert es auch das Phagengenom. In diesem Modell bestimmt das Überleben des Wirts das Überleben des Phagen. Deshalb ist es im Interesse des Phagen, seinen Wirt zu erhalten. Es ist klar, warum eine solche Strategie dem Phagen nützt, aber nicht so klar, wie sie den Bakterien nützen könnte. Scheinbar haben sich viele Bakterien im Körper daran gewöhnt, mit ihren Phagen zu leben.

Wenn sich die Gelegenheit bietet, können Phagen aus ihrem Winterschlaf aufwachen und viele Nachkommen produzieren, die ihre Wirtszellen töten. Manchmal nehmen die austretenden Phagen bakterielle Gene mit sich. Diese Nutzlast kann zuweilen den nächsten Bakterien, die die Phagen infizieren, zugutekommen. [...]

https://www.spektrum.de/fm/912/thumbnail...jpg.6372683.jpg (Grafik: Das menschliche Virom)

Viren, die uns helfen

Das Bakterium Pseudomonas aeruginosa etwa, am besten bekannt als Verursacher der Lungenentzündung, löst eine Reihe von Krankheiten aus. Menschen, die an Lungenkrankheiten wie Mukoviszidose leiden, bekommen dieses Bakterium normalerweise nicht mehr los, selbst wenn sie Antibiotika einnehmen. [...]

Von hier aus ist es kein großer Schritt zu der Frage, ob wir die in uns lebenden Viren nutzen können. Wir haben bereits einige Fälle gefunden, in denen dies auf natürliche Weise geschieht. Wenn sich Phagen auf der Suche nach Bakterien im Körper bewegen, binden sich einige von ihnen an Zellen auf der Oberfläche von Schleimhautmembranen, beispielsweise von denen, die Nase, Rachen, Magen und Darm auskleiden. Die Phagen können sich dort nicht vermehren, aber sie können darauf warten, dass ein verletzlicher Wirt vorbeikommt.

Dieser Prozess könnte uns theoretisch vor einigen Krankheiten schützen. Angenommen, Sie essen Lebensmittel, die mit Salmonellen kontaminiert sind. Wenn diese Bakterien an der Magenmembran ankommen, könnten die Phagen dort die Bakterien infizieren und sie abtöten, bevor sie Krankheiten verursachen können. Auf diese Weise dienen Phagen de facto als Immunsystem, das uns vor Krankheiten schützt. Bisher hat dies noch niemand bewiesen. Aber wie 2019 eine Forschungsgruppe in Finnland zeigte, überdauerten Phagen, die in Schweinen und Regenbogenforellen an Schleim gebunden sind, dort sieben Tage lang und schützten die Tiere vor einem Bakterium.

Hilfe bei antibiotikaresistenten Bakterien

Ein Phage, der viel Aufmerksamkeit erregt, ist crAssphage, der 2014 von Bas Dutilh vom Radboud-Institut in den Niederlanden entdeckt wurde. Seither haben Studien gezeigt, dass er die meisten Menschen auf der ganzen Welt bewohnt – mit Ausnahme der traditionellen Jäger-und-Sammler-Populationen. Es ist ungewöhnlich, dass ein Virus derart weit verbreitet ist, ohne dass es mit irgendeiner Krankheit in Verbindung zu bringen ist. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es die Prävalenz eines gewöhnlichen Darmbakteriums der Gattung Bacteroides kontrolliert. Wenn dem so ist, könnten wir es zur Verbesserung von Magen-Darm-Erkrankungen nutzen. Es ist in menschlichen Exkrementen so weit verbreitet, dass Forscher durch sein Vorkommen im Trinkwasser nachweisen, ob das Wasser durch Abwässer verunreinigt wurde.

Ärzte interessieren sich besonders für Phagen, die antibiotikaresistente Bakterien stoppen könnten. [...] Jetzt nehmen Forscher Phagen erneut ins Visier, wie zum Beispiel Kollegen der Rockefeller University, die ein Phagenenzym zur Bekämpfung einer methicillinresistenten Staphylokokken-Infektion einsetzten.

Bisher schreckten die meisten Ärzte davor zurück, Phagen zu verabreichen, weil sie fürchteten, das menschliche Immunsystem könne überreagieren und gefährliche Entzündungen auslösen. Phagen für therapeutische Zwecke werden in Bakterien gezüchtet, und wenn die Bakterien nicht vollständig entfernt werden, bevor die Phagen verabreicht werden, können die Bakterien eine übermäßig aggressive Immunantwort auslösen. Heute haben wir ausgefeiltere Methoden zur Reinigung von Phagen, und die Sorgen über Nebenwirkungen haben sich weitgehend gelegt.

Kläranlagen als Quelle für Phagen

[...]

Einige wenige solcher Phagen werden bereits für experimentelle Behandlungen eingesetzt. In einem bahnbrechenden Fall aus dem Jahr 2016 unter der Leitung von Robert Schooley, ebenfalls an der U.C. San Diego, setzten Ärzte Phagen aus Abwässern sowie Phagen aus Umweltquellen ein, um den Patienten Tom Patterson zu behandeln: Der dortige Professor hatte wegen Acinetobacter baumannii, eines berüchtigten arzneimittelresistenten Bakteriums, ein Multiorganversagen erlitten. Und sie waren damit erfolgreich.

[...]

Wir werden Superorganismen

Obwohl es noch lange dauern wird, bis wir das menschliche Virom entschlüsseln können, ist es beeindruckend, wie weit wir in nur zehn Jahren gekommen sind. Vor einem Jahrzehnt haben viele Wissenschaftler das Mikrobiom als eine Art passive Schicht winziger Organismen im Körperinneren betrachtet. Heute wissen wir, dass sich zumindest ein Teil davon stetig verändert. Und es sieht derzeit danach aus, als seien die Viren die dynamischsten Akteure.

[...]"

Lesen sie ausführlich dazu die Quelle:
https://www.spektrum.de/news/phagen-vire...ab-global-de-DE

Anm.: Blau hervorgehobene Textpassagen sind mit Links unterlegt.


Den Originalartikel finden Sie unter:

SCIENTIFIC AMERICAN - "Biology - Viruses Can Help Us as Well as Harm Us"
SCIENTIFIC AMERICAN - "Biologie - Viren können uns helfen und uns auch schaden"
https://www.scientificamerican.com/artic...ell-as-harm-us/


Beware of the Virus! - Vigilia Pretium Sanitatis!
Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. (Berthold Brecht)
Doch: Die höchste Kunst besteht darin zu siegen ohne zu kämpfen... (Sun Tsu)

 
Troubleshooter
Beiträge: 46
Registriert am: 17.07.2020

zuletzt bearbeitet 26.12.2020 | Top

   

Ernährungsforschung aktuell
Genforschung

Xobor Einfach ein eigenes Xobor Forum erstellen
Datenschutz