Spektrum.de - Psychologie/Hirnforschung - "PERSÖNLICHKEITSMODELLE: Die Facetten unserer Persönlichkeit"
"Menschliches Erleben und Verhalten gründen in einem Mosaik von vielen verschiedenen Eigenschaften. Die Psychologie will herausfinden, welche Dimensionen unser individuelles Profil ausmachen.
von Corinna Hartmann
Menschen sind verschieden. Der erste ist chaotisch und weltoffen, der zweite ordentlich und dickköpfig, der dritte feinsinnig und zurückhaltend. Schon Babys unterscheiden sich von Geburt an in ihrem Temperament. Manche sind eher reserviert, manche schenken selbst Fremden ein strahlendes Lächeln. Und während ein Säugling den ganzen Tag schläft, ist der andere zwischen den Nickerchen hellwach und strampelt, was das Zeug hält.
Aus diesen frühen Unterschieden lässt sich jedoch noch nicht das spätere Wesen vorhersagen. Erst ab etwa drei Jahren haben sich die Temperamentsmerkmale so stabilisiert, dass sie auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter schließen lassen. Spätestens dann zeigt sich die ganze Bandbreite unserer Vorlieben, wie wir die Welt sehen und darin handeln. Die Unterschiede zwischen Menschen sind dabei teils frappierend. Das ist erstaunlich, denn man könnte meinen, im Lauf der Evolution hätte sich ein einziger Bauplan durchgesetzt, der zu optimal angepasstem Verhalten führt. Die Varianz innerhalb einer Spezies stellt jedoch einen wichtigen Überlebensvorteil dar: Ändern sich die Umweltbedingungen, stirbt nicht gleich die ganze Art aus. Außerdem nützt die Vielfalt dem sozialen Gefüge. Wäre jeder der geborene Anführer, gäbe es Probleme.
Wie lässt sich dieses Spektrum menschlicher Wesenszüge erfassen? Einen frühen Versuch starteten die US-amerikanischen Psychologen Gordon Allport und Henry Odbert 1936. Sie verfolgten dabei eine kluge Strategie: Alle in einer Kultur relevanten Persönlichkeitseigenschaften müssten sich in der Sprache niederschlagen, so die Idee. Die gängigen Adjektive, mit denen man eine Person beschreiben kann, spiegeln demnach real existierende Merkmale wider.
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In den darauf folgenden Jahren machten sich verschiedene Psychologen daran, aus diesen eine Übersicht geläufiger und nicht zu stark wertender Begriffe zu erstellen. Mit dem statistischen Verfahren der Faktorenanalyse ermittelten sie aus der umfangreichen Wortliste eine überschaubare Anzahl dahinterliegender Charaktereigenschaften. Treten bestimmte Wesensmerkmale bei Personen häufig gemeinsam auf (etwa »vertrauensvoll«, »aufrichtig«, »mitfühlend«), werden sie zu einem übergeordneten Persönlichkeitsfaktor zusammengefasst (Verträglichkeit), so die Logik der Faktorenanalyse.
Ein Profil aus fünf Dimensionen
Auf diese Weise destillierte man fünf weitgehend unabhängige Persönlichkeitsdimensionen heraus, die »Big Five«: Extraversion (versus Introversion), Neurotizismus (versus emotionale Stabilität), Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Um eine Persönlichkeit grob zu beschreiben, kann man aus den Ausprägungen der fünf Dimensionen ein Profil erstellen. Mehr als 3000 Charaktervarianten lassen sich so unterscheiden. Die fünf Faktoren setzen sich jeweils wiederum aus sechs spezifischeren Merkmalen zusammen. So gilt als extravertiert, wer herzlich, gesellig, durchsetzungsfähig, aktiv, abenteuerlustig und fröhlich ist. Gewissenhafte Menschen sind laut dem Fünf-Faktoren-Modell ordnungsliebend, pflichtbewusst, leistungsbereit, diszipliniert und besonnen. Als neurotisch gilt, wer ängstlich ist, depressiv, impulsiv sowie in sozialen Situationen befangen und emotional verletzlich. Die Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen äußert sich in Aufgeschlossenheit gegenüber Ideen, Ästhetik, Emotionen und Handlungen sowie einer blühenden Fantasie.
Bis heute sind die Big Five das verbreitetste wissenschaftliche Modell der Persönlichkeit und prägen damit unser Verständnis der menschlichen Natur.
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Doch manche Forscher zweifeln daran, dass die Big Five die Nuancen unseres Charakters optimal erfassen, und arbeiten an Alternativen*. Aber was ist eigentlich ein gutes Persönlichkeitsmodell? Drei Qualitätskriterien sind entscheidend. Zum einen braucht das Modell eine gute Vorhersagekraft: Es muss möglich sein, aus dem Persönlichkeitsprofil auf das Verhalten einer Person zu schließen. Wer also laut den Big Five sehr verträglich ist, sollte nicht bei jeder Gelegenheit einen Streit vom Zaun brechen.
Zweitens müssen alle von einem Modell postulierten Faktoren eine einzigartige Facette des Charakters widerspiegeln. Wiederholungen, die keinen weiteren Erkenntnisgewinn bringen (etwa zusätzlich zur Verträglichkeit ein Faktor Friedfertigkeit), möchte man vermeiden. Drittens müssen sich die postulierten Persönlichkeitsfaktoren eindeutig und verlässlich messen lassen, mit einem Fragebogen, der den wissenschaftlichen Gütekriterien genügt.
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Auf Basis des Fünf-Faktoren-Modells lassen sich gute Vorhersagen treffen. So zeigen Metaanalysen, die den Forschungsstand zu einem bestimmten Thema zusammenfassen, etwa Zusammenhänge zwischen den Big Five und der beruflichen Leistung, Scheidungen, dem Wohlbefinden und der Lebenserwartung. Dabei bleibt eine Frage offen: Wo sind die Big Five anwendbar? Findet man die Fünf-Faktoren-Struktur in allen Sprachen der Welt, oder gilt sie nur für die englischsprachigen Kulturkreise?
Ein Modell für alle Kulturen
Auf Letzteres deutet jedenfalls eine Untersuchung aus dem Jahr 2019 ** hin. Ein internationales Forscherteam um Rachid Laajaj von der Universidad de los Andes in Kolumbien wies nach, dass die Aussagekraft eines gängigen Big-Five-Fragebogens außerhalb von wohlhabenden westlichen Demokratien nachlässt.
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Legten Wissenschaftler Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern jedoch Übersetzungen etablierter Big-Five-Fragebögen vor und führten anhand der Daten erneut eine Faktorenanalyse durch, kristallisierte sich nicht das gewohnte Fünf-Faktoren-Muster heraus. Die Befragten antworteten auf Fragen, die zum gleichen Persönlichkeitsfaktor gehörten, also nicht mehr in der erwarteten Weise.
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Das Sechs-Faktoren-Modell
Immer wieder bestätigten die statistischen Analysen an Stelle der fünf genau sechs Faktoren. Den sechsten und damit neuen elementaren Charakterzug nannten die Forscher »Ehrlichkeit-Bescheidenheit«. Dieser gibt an, wie aufrichtig, fair, bescheiden und genügsam jemand ist. Am anderen Ende des Spektrums finden sich Personen mit negativ besetzten Eigenschaften wie Habgier und Überheblichkeit. Der Faktor steht mit sozialen und politischen Einstellungen und der Kooperationsbereitschaft in Verbindung. Ein verwandtes Konzept stellt die so genannte dunkle Tetrade der Persönlichkeit dar, bestehend aus Machiavellismus, Narzissmus, Sadismus und Psychopathie.
Der Faktor Ehrlichkeit-Bescheidenheit verschafft dem Sechs-Faktoren-Modell, auch genannt »Hexaco«, einen Vorsprung. Es schlägt die Big Five in der Vorhersagekraft, wie Untersuchungen zeigen. Persönlichkeitsprofile, die auf den sechs Faktoren basieren, erlauben etwa bessere Prognosen für Phobien, Psychopathie, Risikobereitschaft, Berufserfolg, Machtstreben und Materialismus. Auch ist damit besser abzusehen, ob jemand zu Straftaten neigt. Der Versuch, diesen neuen Faktor mit Hilfe der Facetten der Big Five nachzubauen, scheiterte. Das Hexaco-Modell blieb der bessere Prädiktor für Delinquenz, darunter Vandalismus, Diebstahl und Verkehrsdelikte.
Fünf Faktoren reichen nicht aus, um den Charakter eines Menschen hinreichend zu beschreiben, sagen deshalb einige Wissenschaftler. Denn auch in anderen Domänen haben die »Big Six« einen Vorsprung: Ein Team um Amber Gayle Thalmayer von der University of Oregon schickten verschiedene Fragebögen ins Rennen, die entweder die Big Five oder die sechs Faktoren des Hexaco-Modells bei gut 200 Studierenden maßen. Mit den erstellten Profilen versuchten sie, Aussagen über Eigenheiten und zukünftiges Verhalten der Studierenden zu treffen, darunter der Notendurchschnitt am Ende des kommenden Semesters, Fehlverhalten, Pünktlichkeit sowie Geselligkeit, die über eine Analyse des Facebook-Profils und der Smartphone-Nutzung erhoben wurde. Die Big Six konnten über alle Prüfgrößen hinweg mit den Big Five mithalten. Beim akademischen Erfolg und dem Hang zum Regelbruch erlaubte das Hexaco-Modell die treffenderen Prognosen.
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Die »Big Two«
Einem anderen Alternativmodell der Persönlichkeit zufolge lassen sich Menschen anhand von nur zwei grundlegenden Eigenschaften charakterisieren: Zielstrebigkeit (agency) und Gemeinsinn (communion). Menschen mit einem starken Gemeinsinn gehören zu den einfühlsamen Tröstern, die Zielstrebigen zu den geradlinigen Machern. Laut einigen Sozialpsychologen nutzen wir diese beiden Merkmale als Maßstab, um Fremde etwa auf einer Party blitzschnell zu kategorisieren. Die Theorie geht auf den US-amerikanische Psychologen David Bakan zurück, der diese 1966 in seinem Buch »The Duality of Human Existence« beschrieb. Demnach achten wir bei der Beurteilung anderer vor allem auf Hinweise für Sanftmütigkeit: Ob jemand Freund oder Feind ist, ist schließlich im Zweifelsfall überlebenswichtig. Verschiedene Wahrnehmungsstudien *** konnten dies bestätigen.
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Die Big Two stellen also im Alltag, besonders im Umgang mit anderen, hilfreiche Kriterien dar. Für die Erstellung differenzierter Persönlichkeitsprofile sind sie jedoch eher ungeeignet.
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Der »Generalfaktor«, der Kern unseres Wesens
Forscher, die auf eine sparsame Betrachtung des Charakters setzen, haben sogar versucht, einen einzigen essenziellen Persönlichkeitsfaktor zu identifizieren: den Kern unseres Wesens sozusagen. Dieser Generalfaktor der Persönlichkeit wird häufig als soziale Erwünschtheit bezeichnet. Sie hängt mit emotionaler Intelligenz, also dem Wissen über das Innenleben anderer zusammen. Ist dieser Faktor stark ausgeprägt, verhält sich der Betreffende stets höflich, umsichtig und ausgeglichen. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich launische, rücksichtslose und streitsüchtige Zeitgenossen. Wie sinnvoll dieser Generalfaktor ist und ob es sich überhaupt um ein bedeutsames Charaktermerkmal handelt, darüber sind sich Forscher allerdings noch uneinig.
»Es gibt nicht eine, zwei drei, vier, fünf oder sechs Persönlichkeitseigenschaften, die irgendwo in uns drinstecken. Vielmehr geht es darum, wie sich der Charakter eines Menschen am besten beschreiben lässt. Je nachdem, welchen Zweck ich damit verfolge, kann ein unterschiedlicher Auflösungsgrad sinnvoll sein«, hält der Psychologe fest. Doch beliebig ist die Auswahl der Wesenszüge nicht. Im Gegensatz zu unseriösen Persönlichkeitstests verraten uns wissenschaftliche Modelle der Persönlichkeit wirklich etwas darüber, was uns unterscheidet – und was uns eint."
Ausführlich dazu die Quelle:
https://www.spektrum.de/news/big-five-si...m_content=heute
* Die Suche nach Alternativen zu den "Big Five":
ScienceDirect/ Elsevier - "Looking beyond the Big Five: A selective review of alternatives to the Big Five model of personality"
ScienceDirect/ Elsevier - "Blick über die Big Five hinaus: Eine selektive Überprüfung von Alternativen zum Big Five-Persönlichkeitsmodell"
https://www.sciencedirect.com/science/ar...191886920301914
** Ein Modell für alle Kulturen- Forschungsbericht:
ScienceAdvances - "Challenges to capture the big five personality traits in non-WEIRD populations"
ScienceAdvances - "Herausforderungen bei der Erfassung der fünf großen Persönlichkeitsmerkmale in Nicht-WEIRD-Populationen"
https://advances.sciencemag.org/content/5/7/eaaw5226