ZEIT ONLINE - "Triage: Haben Corona-Leugner ein Anrecht auf Behandlung?"
"Gälten dieselben Prinzipien nach denen humanitäre Hilfe geleistet wird, so wäre die Antwort: Nein. Zu den Parallelen und zwischen Hungersnot und Corona-Pandemie.
Während der blutigen Koalitionskriege nach der französischen Revolution begann der Militärchirurg Dominique Jean Larrey verletzte Soldaten auf dem Schlachtfeld nach dem Schweregrad ihrer Verletzung und der Dringlichkeit ihrer Behandlung zu sortieren. Anstatt medizinische Hilfe wie bisher auf Offiziere und wieder einsetzbare Soldaten zu begrenzen, ging es Larrey um die Rettung möglichst vieler Menschenleben. Doch seine Ressourcen waren begrenzt.
Larrey arbeitete mit damals neuartigen mobilen Lazaretten, transportfähige Verletzte wurden rasch auf umliegende Krankenstationen verteilt. Dieses Prinzip erhielt bald darauf die Bezeichnung Triage, was mit Einteilung, Sichtung, Sortierung oder Auslese übersetzt werden kann. In den folgenden Kriegen wurde Larreys Idee weiter verfeinert und setzte sich spätestens im Laufe des Ersten Weltkriegs allgemein durch.
Mit dem Entstehen eines modernen Gesundheitssystems hielt die Triage Einzug in die zivile Welt. Insbesondere in der Katastrophen- und Intensivmedizin wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Triage-Systeme entwickelt und adaptiert. Zu einer praktischen Anwendung kommen diese glücklicherweise selten und man begegnet der Triage daher eher in der medizinischen Fachliteratur und in Notfallplänen. Die Verwendung des Begriffs war auf Experten begrenzt.
Es geht um Gerechtigkeit
Das änderte sich schlagartig, als die Corona-Pandemie die Triage im Frühjahr 2020 in die öffentliche Debatte katapultierte. Während die ethische Dimension der Triage bis dahin nur ein Thema für Katastrophenmediziner und Moralphilosophen war, machen sich nun plötzlich breite Bevölkerungsgruppen Gedanken über die Frage, wer Anrecht auf das letzte Beatmungsgerät, das letzte Intensivbett hat.
In der medialen Präsentation wird die Triage dabei oft auf eine Auswahl von stereotypen "Horror-Entscheidungen" reduziert, bei denen – mit gewissem Schaudern – imaginiert und rationalisiert wird, wer unter Umständen zuerst zu sterben habe. Die Tendenz zum Dystopischen ist zwar wenig überraschend, jedoch unangebracht. Neben der effizienten und sinnvollen Anwendung begrenzter Ressourcen geht es bei der Triage nämlich auch um Gerechtigkeit: Der Sinn struktureller Vorgaben für die Patientenauslese im Notfall besteht gerade in der Vermeidung einer politisch, ideologisch oder psychologisch motivierten Selektion.
Natürlich kann auch ein ideales Triage-System moralische und ethische Dilemmata in der Praxis nicht vermeiden. Dies liegt unter anderem daran, dass der utilitaristische Grundgedanke der Triage in einem Spannungsverhältnis mit dem verfassungsrechtlich garantierten Gleichheitsgrundsatz und Fragen der Menschenwürde steht. Dieser Konflikt lässt sich nicht auflösen und kann durch die Empfehlungen von Ethikkommissionen höchstens entschärft werden.
Die momentane Debatte ist nicht zuletzt deshalb notwendig und wichtig. Sie bewegt sich jedoch bislang in einem relativ eng umgrenzten thematischen und geographischen Rahmen, verbleibt oft hypothetisch und verkennt dabei die erschreckende Allgegenwärtigkeit von weitgehend ungeordneten Triage-Prozessen auf globalem Niveau.
Triage und Humanitarismus
Was unter den Bedingungen der Corona-Pandemie plötzlich als erschreckende Möglichkeit erscheint ist im humanitären Sektor seit 200 Jahren Realität: Die durch Regierungen und Privatpersonen zur Verfügung gestellten Mittel reichen kaum aus um einen Bruchteil menschlichen Leidens zu lindern. Humanitäre Prinzipien wie die des Roten Kreuzes enthalten deshalb bereits ein unausgesprochenes Element der Triage, indem sie lediglich versprechen "den Menschen nach dem Maß ihrer Not zu helfen und dabei den dringendsten Fällen den Vorrang zu geben".
Doch selbst diese bescheidenen Ansprüche können sich oft nicht an der Realität messen lassen. Statt größter Not bestimmt ein sich ständig verschiebendes Zusammenspiel von äußeren Umständen, moralischen Erwägungen und ökonomischen Voraussetzungen wessen Leben gerettet wird. Diese moralische Ökonomie der humanitären Triage ist Thema eines Buches, welches ich vor kurzem mit meinen KollegInnen Georgina Brewis und Norbert Götz veröffentlicht habe. Als Fallbeispiele dienen uns die internationalen Hilfskampagnen im Zusammenhang mit drei einschneidender Hungerkatastrophen: Während der 1840er Jahre in Irland, 1921/22 in Sowjetrussland und Mitte der 1980er Jahre in Äthiopien.
Bei der Bereitstellung von Lebensmittelhilfe kam und kommt es regelmäßig zu Verletzungen des Gleichheitsgrundsatzes, zu Verstößen gegen die Menschenwürde, zu Diskriminierung aufgrund persönlicher Merkmale und zum Abwägen wirtschaftlicher Konsequenzen mit Menschenleben. Also zu genau solchen ethischen Fehlleistungen, welche in der gegenwärtigen Diskussion zur Corona-Triage zurecht als inakzeptabel und nicht hinnehmbar kritisiert werden.
Die erste Voraussetzung für diese Ungerechtigkeit bildet die humanitäre "Makro-Triage", also die Auswahl derjenigen Anliegen, welche überhaupt mit Appellen und Spendensammlung unterstützt werden (während viele Katastrophen keine oder nur wenig Beachtung finden). Hier sind eklatante Verletzungen des in der gegenwärtigen Debatte oft hervorgehobenen Gleichheitsgrundsatzes unübersehbar.
Weder kommt das Prinzip der größten Not noch das des größten Nutzens notwendig zum Zuge. Ob sich einer Sache angenommen wird, entscheiden vielmehr Kriterien wie die ethnische, politische und religiöse Zugehörigkeit der Hilfsempfänger, ihr Alter und Geschlecht, die Ursachen ihrer Notlage, die geopolitische Situation, die zu erwartende Dauer und die Erfolgschancen einer Hilfsaktion (um nur einige zu nennen).
So macht es für die Betroffenen beispielsweise einen oft lebensentscheidenden Unterschied ob eine Hungersnot von potenziellen Spendern als menschlich verschuldet oder als Naturkatastrophe wahrgenommen wird. Nur im letzteren Fall kann zumindest gehofft werden, dass genügend Mittel zusammenkommen.
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In den wenigsten Fällen reichen die gesammelten Spenden aus, um die erwählte Hungerkatstrophe abzuwenden oder alle Hungernden zu versorgen. Mittels einer weiteren Triage im Krisengebiet muss deshalb oft ein engerer Empfängerkreis definiert werden, wobei logistische Aspekte und die Erwartungshaltung der Spender eine wichtige Rolle spielen.
Auch hier können deshalb die Prinzipien "größte Not" und "größter Nutzen" nur bedingt angewandt werden, was auch daran liegt, dass sich beide widersprechen können: Genauso wie die Rettung einer junger Ärztin während der Corona Pandemie in einer Nutzenkalkulation das Opfern eines 80jährigen Patienten rechtfertigen würde (schließlich könnte die Ärztin nach ihrer Genesung weiter Kranken helfen), so kann die Rettung eines Bauers während einer Hungerkatastrophe (da er für die lokale Lebensmittelversorgung wichtig ist) sinnvoller erscheinen, als die Rettung einer Schwangeren. Das Sterbenlassen von Schwangeren bei gleichzeitiger Rettung junger Männer könnte allerdings ein Ende des Spendenflusses zur Folge haben.
Humanitäre Organisatoren müssen deshalb bei der Bestimmung ihrer Triage-Kriterien auch und insbesondere die moralisch-ökonomischen Ideale der Spender im Blick haben, welche oft im Konflikt mit den Bedürfnissen oder Werten der Empfängergesellschaft stehen und im schlimmsten Fall den Erfolg einer Hilfsaktion gefährden. Um ideologische und politische Implikationen zu vermeiden versprachen 1921 beispielsweise alle größeren britischen und amerikanischen Organisationen, dass die Hungerhilfe in Russland auf Kinder beschränkt würde.
Regeln entlasten Helfer
Dieses Versprechen erwies sich vor Ort als kontraproduktiv: Die Landbevölkerung starb oder floh, was die Versorgungslage weiter verschärfte. Kinder wurden in der Umgebung von Suppenküchen ausgesetzt. Inspektoren warnten bald davor, dass man eine Generation von Waisen schaffen würde, wenn nicht auch die erwachsene Bevölkerung ernährt werde würde (was dann auch geschah).
Standardprozeduren und festen Regeln erlaubten den humanitären Helfern in Irland, Russland und Äthiopien ihre begrenzten Möglichkeiten und Ressourcen besser zu ertragen. Die Gewissheit, dass jedes Abweichen von der Norm mehr Opfer zur Folge haben könnte, gab emotionalen Halt. Insofern können verbindliche Regelungen der psychologischen Entlastung von medizinischem Personal dienen.
Doch zeigt unsere Analyse auch, dass die dauerhafte Konfrontation mit menschlichem Leid die humanitären Helfer immer wieder vor die Entscheidung stellte "die Dinge richtig zu tun" (also den Regeln zu folgen) oder "die richtigen Dinge zu tun" (sich auf intuitive Moralvorstellungen zu verlassen). Ähnlich wie Katastrophenmediziner, die nach Triage-Situationen an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, beklagten sie sich über die "Geschmacklosigkeit" und Unmöglichkeit der ihnen auferlegten Auslese. Das triagische Mantra, dass man einzelne opfern müsse, um viele zu retten, half dabei wenig.
Triage ohne Grenzen
Die aktuelle Angst vor einem "Corona-Horror-Szenario" ist verständlich und die Debatte über ethische Implikationen der Triage notwendig. Jedoch offenbart die oft panikschwangere Diskussion aus einer humanitär-historischen Perspektive eine verzerrte Wahrnehmung, und zwar sowohl bezüglich des Ausnahmezustandes als auch der Beschaffenheit des befürchteten Ausgeliefertseins.
Viele Bewohner des globalen Nordens blenden aus, dass Millionen von Menschen einer oft dauerhaften Triage mit wesentlich willkürlicheren, ja oft irrationalen Kriterien unterworfen waren und sind. Anders als die potenziellen Patienten in der gegenwärtigen Situation (die Teil der Triage ausübenden Gesellschaft mit politischem Wahlrecht und Interessenvertretern sind) haben die Empfänger lebensnotwendiger Hilfe in humanitären Katastrophen wenig Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen und die Kriterien der Triage zu beeinflussen, falls sie überhaupt davon wissen.
Die aktuellen Warnungen vor einer globalen Hungerpandemie im Fahrwasser des Coronavirus bestätige, dass die Frage der Triage keine rein medizinische, sondern eine gesellschaftliche ist. Genauer gesagt: Eine globalgesellschaftliche. Das durch die Corona-Pandemie entstandene allgemeine Bewusstsein ob der moralisch-ethischen Problematik der Triage birgt die Möglichkeit einer zwar nicht neuen, aber ehrlicheren Reflektion über Fragen der globalen Verteilungsgerechtigkeit. Die jetzt diskutierten ethischen Kriterien zur Verteilung lebensnotwendiger Ressourcen müssen im Prinzip universal sein, und langfristig auch auf globaler Ebene und im humanitären Bereich angelegt werden. Dies gilt um so mehr, als im Gegensatz zu Beatmungsgeräten ausreichend Nahrungsmittel zur Versorgung der Weltbevölkerung produziert werden.
Norbert Götz; Georgina Brewis; Steffen Werther (2020). "Humanitarianism in the Modern World: The Moral Economy of Famine Relief". Cambridge: Cambridge University Press (Open access).
Siehe dazu die Quelle:
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/co...foHS?li=BBqg6Q9
Kommentar
Aus dem Blickwinkel der möglichen Notwendigkeit einer Triage ergeben sich nicht nur deutliche Parallelen zwischen der Corona-Pandemie und den globalen Hungersnöten, sondern auch das tatsächliche Erfordernis der Reflektion über Fragen der globalen Verteilungsgerechtigkeit grundsätzlich ausreichend vorhandener Nahrungsmittel. Insoweit gehe ich mit der Analyse der Autoren konform, die im Ergebnis besagt, dass die aktuell diskutierten ethischen Kriterien zur Verteilung lebensnotwendiger Ressourcen im Prinzip universal sein und langfristig auch global und im humanitären Bereich wirksam angelegt werden müssen. Auch in diesem Punkt kann man die Pandemie als einen richtungweisenden Indikator ansehen. Man muss nur bei den Verantwortlichen die Bereitschaft dazu zeigen, den vorgezeichneten Weg einschlagen und konsequent verfolgen. Das allerdings dürfte neben den möglichen sachlichen Schwierigkeiten das größte Problem dabei sein.